Der von der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO-ILO) im Mai 2006 vorgelegte zweite Gesamtbericht über Kinderarbeit steht unter dem Motto: „Das Ende der Kinderarbeit: Zum Greifen nah“. Dieses erstaunlich optimistische Szenario beruft sich darauf, dass die Zahl der erwerbstätigen Kinder in den vergangenen vier Jahren weltweit um 11 Prozent und derjenigen in gefährlicher Arbeit um 26 Prozent gefallen sei. Gegenüber diesen Daten ist nicht nur Skepsis angebracht, sondern sie belegen auch nicht, dass ein Ende der Kinderarbeit vor der Tür stehen könnte. Die ILO selbst formuliert in ihrem Aktionsplan das Ziel, in den kommenden 10 Jahren die „schlimmsten Formen“ der Kinderarbeit abzuschaffen, während für andere Formen von Kinderarbeit keine zeitlichen Zielvorgaben gemacht werden.

Ein Grundproblem des ILO-Berichts besteht darin, dass die Arbeit von Kindern – wie schon in früheren Berichten und Stellungnahmen – in einer Weise definiert wird, die ungeachtet der vorgenommenen Differenzierungen nur eine grundsätzlich negative Bewertung zulässt. Kinderarbeit gilt als unvereinbar mit (schulischer) Bildung und wird in erster Linie als „Entwicklungshindernis“ – insbesondere für das wirtschaftliche Wachstum und die Überwindung von Armut – verstanden. Auf diese Weise wird nicht nur der Blick tunnelartig auf die negativen Aspekte der Arbeit von Kindern begrenzt, sondern es bleiben auch viele lebenswichtige und von Kindern bejahte Tätigkeiten in den statistischen Daten und strategischen Erwägungen der ILO unberücksichtigt.

Die am weitesten gefasste Definition der ILO bezieht sich auf die sog. Erwerbstätigkeit von Kindern. Hierunter werden „produktive Tätigkeiten“ von Kindern verstanden, „ungeachtet dessen, ob sie für den Markt bestimmt sind oder nicht, bezahlt oder unbezahlt sind, ob es sich um einige wenige Stunden oder eine vollzeitliche Gelegenheits- oder reguläre Arbeit handelt und ob sie rechtmäßig oder unrechtmäßig ist“ (S. 6 – Zitate nach der deutschen Version des Berichts). Dabei gilt ein Kind als erwerbstätig, „das mindestens eine Stunde an einem Tag innerhalb eines Referenzzeitraums von sieben Tagen arbeitet“ (ebd.). Ausdrücklich ausgeschlossen werden „häusliche Pflichten“ und „Schularbeit“. Auch wenn in dieser Definition von Erwerbstätigkeit Arbeiten einbezogen sind, deren Ergebnisse nicht direkt für den Markt bestimmt sind, bleiben doch alle Tätigkeiten ausgeschlossen, die nicht der „ökonomische Wertschöpfung“ im Sinne des Bruttosozialprodukts einer nationalen Gesellschaft gelten, egal ob sie lebenswichtig sind oder nicht (z.B. im Rahmen der Subsistenzproduktion oder im Falle der selbstständigen Arbeit von Kindern).

Aus der Sicht der ILO handelt es sich bei der „Erwerbstätigkeit von Kindern“ um eine ausschließlich „statistische“ Kategorie, die zwar erhoben wird, aber für politische Maßnahmen irrelevant ist. Von „Kinderarbeit“, die politische Maßnahmen erfordert, spricht die ILO nur im Blick auf solche Tätigkeiten, die nach den ILO-Konventionen Nr. 138 (Mindestalter für die Arbeitsaufnahme) und Nr. 182 (Bestimmung der „besonders schlimmen“ Formen von Kinderarbeit) verboten sind. Demnach üben Kinder über 12 Jahre, die nur einige Stunden pro Woche eine erlaubte leichte Arbeit verrichten, sowie Kinder über 15 Jahre, deren Arbeit nicht als „gefährlich“ eingestuft wird, keine „Kinderarbeit“ aus oder werden nicht als „Kinderarbeiter“ bezeichnet. Im Sinne der ILO ist Kinderarbeit eine rein rechtliche Kategorie, wird also durch politische bzw. rechtliche Vorgaben definiert, von denen stillschweigend angenommen wird, dass sie „sinnvoll“ und „im Interesse der Kinder“ seien.

Dies gilt ebenso für die Kinder in sog. gefährlicher Arbeit. Darunter wird jede Tätigkeit oder Beschäftigung verstanden, „die sich ihrer Natur nach schädlich auf die Sicherheit, die körperliche oder seelische Gesundheit und die sittliche Entwicklung des Kindes auswirkt oder auswirken kann. Gefahren können auch von einer übermäßigen Arbeitsbelastung, den physischen Arbeitsbedingungen und/oder der Arbeitsintensität im Sinne von Arbeitsdauer oder geleisteten Arbeitsstunden ausgehen, selbst dann, wenn einen Tätigkeit oder Beschäftigung als nicht gefährlich oder als ‚sicher’ gilt“ (S. 6). Auch diese Kategorie ergibt sich aus den rechtlichen Vorgaben der ILO-Konventionen, insbesondere der Konvention Nr. 182.

Auf der Basis dieser Kategorien gelangt die ILO zu der Schätzung, dass es im Jahr 2004 317 Millionen „erwerbstätige Kinder“ im Alter von 5 bis 17 Jahren gab, von denen 218 Millionen als „Kinderarbeiter“ gelten. Von diesen waren lt. ILO 126 Millionen mit „gefährlicher Arbeit“ beschäftigt. Die entsprechenden Zahlen für die enger gefasste Altersgruppe von 5 bis 14 Jahren lauten: 191 Millionen erwerbstätige Kinder, 166 Millionen „Kinderarbeiter“ und 74 Millionen Kinder in „gefährlicher Arbeit“ (S. 6). Nach den definitorischen Vorgaben der ILO wird dem gemäß nur ein Bruchteil der arbeitenden Kinder erfasst und auch die Annahmen über den Rückgang der Kinderarbeit und ihr baldiges Verschwinden sind als weitgehend willkürlich zu bezeichnen. Da die ILO als Grund für den angenommenen Rückgang vor allem auf die von ihr angeführte „weltweite Bewegung gegen die Kinderarbeit“ verweist, kommen die Aussagen eher einer Selbstbeschwörung oder Selbstbeweihräucherung als einer realistischen Bestandsaufnahme gleich.

Über die Fragwürdigkeit der Kategorien hinaus stellt sich die Frage, welche Messmethoden den Daten zugrunde liegen und welche Probleme sich bei der länderübergreifenden, weltweiten Messung nach einheitlichen Kriterien in der Praxis ergeben haben. Der Bericht selbst gibt dazu keine Auskunft. In ihm wird behauptet, dass die Anzahl der erwerbstätigen Kinder vor allem in Lateinamerika und der Karibik zurückgegangen sei, im Laufe von vier Jahren um nicht weniger als zwei Drittel (S. 7). Aus einem Bericht des Andenbüros von terre des hommes lässt sich dagegen der Schluss ziehen, dass die Daten zurechtgebogen wurden, um die Aktivitäten zur Bekämpfung der Kinderarbeit in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. So hat sich z.B. in Bolivien nach Angaben des Nationalen Statistik-Instituts zwischen 1992 und 1998 die Zahl der arbeitenden Kinder kontinuierlich von 500.000 auf 800.000, also um 62 Prozent erhöht, während sie sich kurioserweise im Jahr 2005 auf ganze 350.000, also um 56 Prozent reduziert haben soll. Vorausgegangen war eine Koordinierung der Messmethoden in Absprache mit internationalen Institutionen. Auch in vielen anderen Ländern spricht die Erfahrung von NROs und der Bewegungen arbeitender Kinder gegen die Erfolgsmeldungen der ILO, wobei zu bedenken ist, dass viele arbeitende Kinder – nicht zuletzt durch die von der ILO und ihrem „Internationalen Programm zur Abschaffung der Kinderarbeit“ (IPEC) veranlassten Maßnahmen – notgedrungen aus den öffentlichen Räumen der Innenstädte in städtische Randzonen und nicht-öffentliche Bereiche ausgewichen sind.

Dem ILO-Bericht mangelt es nicht nur an Glaubwürdigkeit, sondern auch an analytischer Stringenz. Zu Recht kritisiert das „Deutsche NRO-Forum Kinderarbeit“, dass der ILO-Bericht „nicht untersucht, welche Auswirkungen Globalisierungsprozesse und wirtschaftspolitische Strategien wie Liberalisierungen, Deregulierungen und Privatisierungen auf Kinderarbeit haben“ (Pressemitteilung v. 4.5.06). In fahrlässiger Weise behauptet die ILO sogar, die Reduzierung der Kinderarbeit sei dem gewachsenen Bewusstsein der politischen Entscheidungsträger und ihren größeren Anstrengungen zur Armutsreduzierung und der Ausweitung der „Massenbildung“ zu verdanken. In vielen Ländern wächst zwar in der Bevölkerung die Unzufriedenheit und Empörung über die katastrophalen Folgen der über zwei bis drei Jahrzehnte betriebenen neoliberalen Politik, die die Reichen noch reicher und die Armen noch ärmer gemacht hat. Aber gegenüber Ländern, in denen neuerdings versucht wird, progressive politische Akzente zu setzen und der gewachsenen Armut den Kampf anzusagen, drohen multinationale Unternehmen, internationale Handels- und Finanzinstitutionen wie WTO und IWF und manche reichen Staaten des Nordens mit Kapitalverlagerung, Zwangsmaßnahmen und Kreditverweigerung. In dem Bericht der ILO wird lediglich mit nebulösen Worten der Wille zu einer „fairen Globalisierung“ beschworen, ohne die notwendige Änderung der weltweiten Machtverhältnisse beim Namen zu nennen. Soll dies womöglich durch die angekündigte engere Zusammenarbeit mit der Weltbank erreicht werden?

Arbeit und Bildung werden mit Blick auf die Kinder als unvereinbare Gegensätze betrachtet. Zwar wird immer wieder eine bessere Qualität der Bildungsinstitutionen eingefordert und gar einmal von einer „kinderfreundlichen Schule“ gesprochen, aber kein Gedanke wird darauf verschwendet, wie die Schule mit der Lebenssituation arbeitender Kinder in Einklang gebracht werden könnte. Konkrete und oft erfolgreiche Ansätze „nicht-formeller Bildung“ mit arbeitenden Kindern, die deren Erfahrungen ernstnehmen, werden als „Bildung zweiter Klasse“ abgewertet und sogar als bedenkliches „Parallel- und Konkurrenzsystem zur formellen Bildung“ (S. 63) gebrandmarkt. Der Bericht hinterlässt den Eindruck, als habe die ILO nie etwas von Bildungskonzepten und reformpädagogischen Schulen gehört, die gezielt Lernen mit Arbeitserfahrungen verknüpfen und gerade für arbeitende Kinder eine erfolgversprechende Alternative darstellen können.

Perfide mutet an, wie der Bericht Gegensätze zwischen arbeitenden Kindern einerseits und arbeitslosen Jugendlichen und Erwachsenen andererseits konstruiert. Die Arbeit von Kindern wird dafür verantwortlich gemacht, dass Jugendliche keine Arbeit finden, als gäbe es jenseits der ILO-Konventionen eine klar fixierbare Trennlinie zwischen beiden Altersgruppen. Während für Jugendliche „menschenwürdige Arbeit“(decent work) als Lösung ihrer Probleme dargestellt wird, wird arbeitenden Kindern pauschal unterstellt, sie könnten bei der Arbeit nichts lernen und keine beruflichen Qualifikationen erwerben. Dieser vermeintliche Widerspruch, den die ILO als „grausame Ironie“ (S. 66) bezeichnet, mag noch als Mangel an logischem Denken durchgehen. Allerdings wird die Perfidie offensichtlich, wenn den Gewerkschaften nahegelegt wird, im „informellen Sektor“ Fuß zu fassen, da hier die meisten arbeitenden Kinder zu finden, d.h. zu ersetzen seien. Die ILO sieht darin für die Gewerkschaften „eine einzigartige Chance den gewerkschaftlichen Organisationsgrad auszuweiten“(S. 76) – auf Kosten der hier arbeitenden Kinder.

Der Bericht wird zwar nicht müde, die Gefahren der Arbeit für die Kinder zu betonen, aber er lässt jegliche Empfindsamkeit für die konkreten Nöte, Bedürfnisse und Erwartungen der arbeitenden Kinder vermissen. Im Vordergrund des Interesses der ILO scheint zu stehen, dass durch die Kinderarbeit das „Humankapital beschädigt oder sogar zerstört“ werde, „das gebraucht wird, damit die Wirtschaft in Zukunft wachsen kann“ (S. 2). Deshalb wundert es nicht, dass die blumigen Beschwörungen der „Rechte“ und der „Beteiligung“ der Kinder nicht in konkrete Dialog- und Mitwirkungsangebote münden. Kinder werden nur unter der Voraussetzung zur Mitwirkung eingeladen, dass sie den „Bemühungen zur Beseitigung der Kinderarbeit“ (S. 85) dienlich ist. Im gesamten Bericht findet sich keine Spur von Nachdenklichkeit über die nicht selten negativen Folgen, die mit Maßnahmen gegen die Kinderarbeit für die Kinder selbst einhergehen. Unterschiedliche Auffassungen über angemessene Strategien zur Verbesserung der Situation der arbeitenden Kinder werden als „Gefahr von Querelen zwischen einzelnen Denkweisen“ (S. 85) abgetan. Die Bewegungen arbeitender Kinder werden zwar erwähnt, aber mit keinem Wort wird auf ihre Erfahrungen, Forderungen und Vorschläge eingegangen. [2]

Der neue Bericht zur Kinderarbeit ist ein erneuter Beleg, dass die Internationale Arbeitsorganisation für die konkreten Interessen und Bedürfnisse arbeitender Kinder taub bleibt. Statt gebetsmühlenartig die Abschaffung der Kinderarbeit zu propagieren, wäre ihr zu empfehlen, genau zu fragen, was zur Verbesserung der Situation dieser Kinder beitragen könnte – und dabei den arbeitenden Kindern und ihren Organisationen Gehör zu schenken und mit ihnen im gegenseitigen Respekt einen ernsthaften Dialog zu beginnen.

Berlin, im Mai 2006


[1] Internationales Arbeitsamt: Das Ende der Kinderarbeit: Zum Greifen nah. Gesamtbericht im Rahmen der Folgemaßnahmen zur Erklärung der IAO über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit. Bericht des Generaldirektors für die Internationale Arbeitskonferenz, 95. Tagung. Genf 2006.

http://www.ilo.org/public/german/region/eurpro/bonn/download/enderderkinderarbeit.pdf

[2] Um mehr darüber zu erfahren, bieten sich folgende Quellen im Internet an: http://www.workingchild.org (engl.), www.enda.sn/eja (engl. u. franz.), http://www.ifejants.org (span.), http://www.pronats.de (deutsch), sowie folgende beiden Bücher: M. Liebel: Kindheit und Arbeit. Frankfurt am M./London 2001 und M. Liebel: Kinder im Abseits. Weinheim/München.

Autorenadresse:
Philip Meade
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