Stephan Sting, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
In an international perspective cooperation between social services and school has a long tradition. In the German speaking countries we can recognize a historical distance or gap between school and “social pedagogy”, but despite this tradition new forms of cooperation are arising since the last few years. This tendency is part of the development of European societies into “knowledge-based societies” where knowledge and cultural capital are becoming ever stricter criteria for participation in society. This puts particular pressure on those adolescents who threaten to fail in the positional competition for educational qualifications. And it tends to the reproduction and reinforcing of social inequalities due to inequalities in education.
For that reason in the article the development of school related social services in different European countries is investigated and it is shown that the increasing pressure to qualification and selection in school creates various problems of integration. Social dimensions of education are pointed out delivering starting points for the cooperation of social services in school and opening opportunities for productive forms of coping with differences between family background, informal social environment and educational milieu in school. Particular attention is paid to differences in socio cultural habits, in socio economical opportunities and in collective practices of interaction.
A central focus in the contribution is the orientation towards a participative civil society climate relevant for the interaction between teachers and pupils and between professionals and addressees of social services as well. It is a task of future research in school related social services to analyse their institutional structure and their practices of professional interaction and to find out by European and international comparison in which way social services can contribute to the establishing of a participative civil society climate in school.
Die Einbeziehung sozialer Dienste in die pädagogische Arbeit der Schule hat international eine lange Tradition. Während sich erste Ansätze des „school social work“ in den USA bis 1913 zurückverfolgen lassen, konnte sich z.B. in Kanada ab den 1940er Jahren eine Kooperation zwischen Lehrern und Sozialarbeitern etablieren oder wurden in Schweden im Zuge der Einführung der Einheitsschule in den 1960er Jahren außerunterrichtliche, auf die soziale Integration ausgerichtete Unterstützungsangebote an Schulen verankert (vgl. Richter 2005). Die Situation in den deutschsprachigen Ländern ist demgegenüber davon geprägt, dass die Sozialpädagogik sich historisch als ein „Gegenort“ zur Schule verstanden hat, an dem explizit andere Regeln gelten und andere Erfahrungen gemacht werden können als in der Schule. Insbesondere Jugendwohlfahrt und Jugendhilfe, die der Tradition der Jugendbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts entspringen, lassen sich auf einen schuloppositionellen, subversiven Gründungsimpuls zurückführen. Und in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde in der klassischen Definition von Gertrud Bäumer (1929) die Abgrenzung von der Schule zum Markenzeichen der Sozialpädagogik erhoben: Indem Sozialpädagogik als „alles, was Erziehung, aber nicht Schule und nicht Familie ist“, bestimmt wurde, ist ihr das „Nicht-Schulische“ als Wesensmerkmal eingeschrieben.
Vor diesem Hintergrund ist es erklärungsbedürftig, warum sich auch in den deutschsprachigen Ländern in den letzten Jahren ein neues Interesse der Sozialpädagogik und der sozialen Dienste an der Schule erkennen lässt. Ich möchte daher im Folgenden eine Erläuterung der sozialpädagogischen Zuständigkeit für die Schule in drei Schritten anbieten: Erstens geht es um die Frage, warum Schule und formale Bildung zu einem sozialpädagogischen Thema geworden sind. Zweitens ist zu klären, was die Sozialpädagogik überhaupt an der Schule interessieren könnte – welchen disziplinären Zugang sie also zur Schule hat. Und drittens geht es schließlich um die Präzisierung des sozialpädagogischen Auftrags in einer schulbezogenen, multiprofessionellen Kooperation.
Die europäischen Gesellschaften entwickeln sich gegenwärtig zu „Wissensgesellschaften“, in denen der Schulbesuch und der Erwerb von formaler Bildung eine zunehmende Bedeutung erlangen. Heranwachsende geraten immer mehr unter Druck, ihre Rolle und ihren Status in der Gesellschaft über den Erwerb von kulturellem Kapital zu sichern. Dies hat in den letzten Jahrzehnten zu einer generellen Anhebung des Bildungsniveaus geführt und zugleich einen „positionalen Wettbewerb“ um Bildungszertifikate in Gang gesetzt (Brown/Lauder 2001). Der Erwerb von kulturellem Kapital wird in der Wissensgesellschaft zu einem immer entscheidenderen Selektionskriterium, das gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten eröffnet oder blockiert.
Zugleich zeigen neuere Studien überdeutlich, dass der Erfolg in der Schule vom sozialen Herkunftsmilieu abhängig ist. Je niedriger der soziale Status, desto niedriger der Bildungsstatus – diese Korrelation kann sehr stark sein wie z.B. in Deutschland oder relativ schwach wie z.B. in Schweden, aber sie kehrt sich in keinem Land um (Baumert u.a. 2001; Prenzel u.a. 2004). Schule verdoppelt damit den sozialen Status durch Zuweisung eines entsprechenden Bildungsniveaus und schreibt mit Hilfe des Leistungspostulats die Verantwortung für den Bildungserfolg dem Individuum selbst zu. Das Ergebnis dieser Prozedur besteht in einem Land mit einem stark selektiven Schulsystem wie Deutschland darin, dass ca. 10-15% der Heranwachsenden das Bildungssystem mit Resultaten verlassen, „die einen gesicherten Zugang zur Erwerbsarbeit und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ernsthaft in Frage stellen“ (Schroeder 2004, 9).
Mit der geänderten gesellschaftlichen Bedeutung von Schule geht eine Ausdehnung des Schulbesuchs über die Lebenszeit einher. „Zur Schule gehen“ ist bis zur Schwelle des Erwachsenwerdens zu einer unvermeidlichen Tatsache geworden (Hackauf/Winzen 2004, 41). Schule ist dementsprechend heute ein „Lebensort“, an dem Jugendliche einen großen Teil ihrer Zeit verbringen und in Interaktionsbeziehungen wichtige Erfahrungen machen, die zur Identitätsbildung und zur Herausbildung von sozialen Praxisformen beitragen und in denen Fragen der sozialen Anerkennung und der Lebensbewältigung bearbeitet werden (Oelerich 1996, 222ff.). Schüler tragen ihre Lebensprobleme in die Schule hinein, so dass z.B. Gewalterfahrungen oder Substanzkonsum zu schulischen Problemen werden. Während Schule die Lebenschancen der Schüler beeinflusst, wirken der Lebenshintergrund und die Zukunftsperspektiven der Schüler in die Schule hinein.
Schule weist damit vielfältige soziale Bezüge auf, die der Sozialpädagogik als Anknüpfungspunkte dienen können. Durch ihren Fokus auf soziale Integration ist für die Sozialpädagogik von Bedeutung, welche Effekte die schulische Selektion mit sich bringt und in welcher Weise gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten gesichert werden können. Durch ihren Fokus auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit setzt sie sich mit der Reproduktion von sozialer Ungleichheit durch das Bildungssystem auseinander. Durch ihre Aufmerksamkeit auf Prozesse der Identitätsbildung und der Etablierung sozialer Praxisformen interessiert sie sich für den Lebensort Schule, und durch ihre Beschäftigung mit sozialen Problemen wird sie schließlich zunehmend für die Bearbeitung schulischer Probleme angefragt.
Aufgrund dieser Überschneidungen von Schule und Sozialpädagogik wird die Annäherung der Sozialpädagogik an die Schule verständlich. Dabei zeichnen sich zwei unterschiedliche Tendenzen ab, die beide den disziplinären Status der Sozialpädagogik in Frage stellen. Erstens entdeckt die Sozialpädagogik immer mehr „Bildungsrelevantes“ – nicht nur in der Schule, sondern auch in ihren eigenen Handlungsfeldern. Durch Rückbesinnung auf ein umfassendes Bildungsverständnis, das nicht-formelle und informelle Aspekte von Bildung einschließt, erklärt sie sich für eine allgemeine und alltägliche „Lebensbildung“ zuständig (Thiersch 2002). Daraus resultiert in einigen Fällen ein Plädoyer für ein verändertes Selbstverständnis, das in der Forderung nach „Bildung statt Hilfe“ zum Ausdruck kommt (Berse 2005, 14; vgl. auch BMFSJ 2005). Auf diese Weise versucht sie zwar am Aufschwung des Bildungsthemas zu partizipieren, doch um den Preis einer paradigmatischen Unschärfe im Verhältnis zu den etablierten Institutionen des formalen Bildungssystems.
Zweitens mehren sich Formen der Kooperation zwischen schulischen und sozialpädagogischen Institutionen. Im deutschsprachigen Raum hat sich hierfür der Ansatz der „Schulsozialarbeit“ etabliert, der in der Regel ein mehr oder weniger eigenständiges Handlungsfeld im Rahmen der Institution Schule beschreibt (Braun/Wetzel 2000; Drilling 2004; Heimgartner 2004). Im internationalen Kontext zeichnen sich demgegenüber recht vielfältige institutionelle Entwicklungen ab, jedoch lässt sich überall eine wachsende Bedeutung der schulbezogenen Sozialpädagogik erkennen. Und auch im deutschsprachigen Raum gibt es neben der Schulsozialarbeit weitere Formen schulbezogener sozialer Dienste in und außerhalb der Schule wie z.B. Suchtpräventionsprojekte, schulische Gesundheitsförderung, Konfliktschlichtung oder Erziehungsberatung. Um das weite Feld der Kooperationsbeziehungen zwischen Sozialpädagogik und Schule zu erfassen, eignet sich daher die Formel „soziale Dienste im Kontext von Schule“ besser als der relativ eng gefasste Begriff der „Schulsozialarbeit“. Die institutionelle Annäherung der Sozialpädagogik an die Schule ist ebenfalls nicht unproblematisch, da hierbei die Gefahr gesehen wird, dass Sozialpädagogik ihre Eigenständigkeit und ihre fachliche Identität zu verlieren droht und den Zwängen der Institution Schule untergeordnet wird (Olk u.a. 2000, 18ff.). Deshalb geht es mir im nächsten Schritt darum zu untersuchen, welchen spezifischen Zugang die Sozialpädagogik zur Schule gewinnen kann, ohne ihre fachliche Eigenständigkeit in Frage zu stellen.
Der gestiegene Qualifikations- und Selektionsdruck der Schule erzeugt schulische Integrationsprobleme. In Bildungssystemen mit institutioneller Separierung wie in Deutschland und Österreich werden soziale Dienste von der Schule angefragt, um schulische Probleme kompensatorisch zu bearbeiten, Störungen zu beseitigen und eine ansonsten nicht in Frage gestellte schulische Ordnung abzusichern. Sozialpädagogik übernimmt dabei oft wider Willen eine den schulischen Anforderungen untergeordnete „Feuerwehrfunktion“, wobei ihre Inanspruchnahme mit der Zunahme schulischer Probleme wächst. Ein Indiz dafür ist, dass sich Schulsozialarbeit vor allem in „sozialen Brennpunkten“ mit einer Häufung von sozialen Problemen etablieren konnte.
Während in Deutschland inzwischen knapp ein Viertel der Schulen mit Schulsozialarbeit ausgestattet ist, beschränkt sich ihre Verbreitung in Österreich auf unter 1% der Schulen (Heimgartner 2004, 594). Durch die Ganztagsschulinitiative der deutschen Bundesregierung könnte sich Schulsozialarbeit zumindest im Primarschulbereich in Deutschland flächendeckend ausdehnen, wogegen in Österreich bisher eher zaghafte Ausbauversuche durch Einzelprojekte zu erkennen sind. Ob das seit dem Schuljahr 2006/2007 für österreichische Schulen verpflichtende Angebot einer „schulischen Nachmittagsbetreuung“ zur stärkeren Einbeziehung sozialer Dienste in die Schule führen wird, bleibt bisher noch offen. In der Schweiz zeichnet sich demgegenüber in jüngster Zeit eine starke Entwicklung in Richtung Schulsozialarbeit ab, die zu einer Vervielfältigung von Projekten der Sozialarbeit an Schulen geführt hat (vgl. Drilling 2004).
In integrierten Systemen wie in Finnland, Schweden oder Slowenien sind soziale Dienste selbstverständlicher Bestandteil der Schule und sie üben stärker präventiv ausgerichtete Funktionen aus. Beispielsweise gilt in Finnland die Formel: „Jeder Schüler hat im Verlauf seiner Schulzeit Probleme und jeder Schüler hat daher ein Recht auf Beratung und Unterstützung.“ Die Umsetzung dieses Rechts wird durch den Einsatz multiprofessioneller Teams in Schulen, bestehend aus Lehrern, Sozialpädagogen, Psychologen, Ärzten und ehrenamtlichen Schülern bis hin zum Gymnasium gewährleistet. Allerdings zeigen sich auch in integrierten Systemen im Zuge des Wandels zur Wissensgesellschaft Desintegrationsprobleme. In Slowenien existieren seit 35 Jahren interdisziplinäre „Beratungsteams“ an Schulen, die seit 1990 mit den Folgen des Wandels von einer relativ egalitären zu einer individualisierten und sozial selektiven Gesellschaft konfrontiert sind. In der Schule resultieren daraus neuartige Problemstellungen wie Sucht, Schulverweigerung und Angst vor Arbeitslosigkeit, die die Effektivitätsgrenzen der bisherigen Arbeitskonzepte sozialer Dienste deutlich machen (Ule 2000). In Schweden, das schon seit vielen Jahren Erfahrungen mit einer konsequenten Integrationspolitik hat, stellen sich unter der Hand Desintegrationseffekte ein. Der gestiegene Qualifikations- und Selektionsdruck führt dazu, dass immer mehr Heranwachsende als „lernbeeinträchtigt“ kategorisiert werden. Sie erhalten dadurch zwar spezifische Integrationshilfen, doch sie werden zugleich einer „Klientelisierung“ unterzogen, die einen „Zweite-Klasse-Bürgerstatus“ zur Folge hat (Szönyi/Gustavsson 2003). Damit zeigt sich, dass auch integrierte Systeme durch die Auswirkungen des Wandels zur Wissensgesellschaft unter Druck geraten.
Wird vor dem Hintergrund heterogener institutioneller Strukturen nach einem disziplinären Zugang sozialer Dienste zur Schule gefragt, dann dient die Perspektive der sozialen Integration zwar als Rahmenorientierung, aber es lässt sich daraus noch kein fachlicher Auftrag für die Sozialpädagogik ableiten. Die Beschreibung des sozialpädagogischen Zugangs zur Schule erfordert eine Präzisierung, in der die besondere Beteiligung der sozialen Dienste am Bildungsprozess und die Eigenständigkeit in der Zielbestimmung sozialer Dienste zum Ausdruck gebracht werden können.
Mein Vorschlag zur Präzisierung des sozialpädagogischen Zugangs zur Schule besteht darin, die Beteiligung an Bildungsprozessen unter der spezifischen Perspektive der sozialen Bildung zu betrachten (Sting 2004). Soziale Bildung umfasst soziokulturelle, sozialstrukturelle und interaktive Dimensionen von Bildung, die wie andere Bildungsaspekte in eine Spannung zwischen Prozessbeschreibung und Zielbestimmung eingebettet sind. Die Zielbestimmung sozialer Bildung bezieht sich auf Formen und Grundlagen des Zusammenlebens in der modernen Gesellschaft, die für Schulen ebenso wie für andere Institutionen relevant sind. Es geht dabei um die Gestaltung von Interaktionsbeziehungen, um den Umgang mit Differenzerfahrungen, um die Bearbeitung von sozialen Ungleichheiten und um die Ermöglichung von gesellschaftlicher Teilhabe, was im Begriff des „zivilgesellschaftlichen Klimas“ zusammengefasst werden kann. [1]
Die Orientierung am „zivilgesellschaftlichen Klima“ und die Reflexion und Bearbeitung sozialer Aspekte von Bildung sind meiner Einschätzung nach Perspektiven, die einen eigenständigen sozialpädagogischen Zugang zur Schule eröffnen. Die sozialen Dienste im Kontext von Schule zielen dementsprechend weniger auf die Unterstützung der Schüler beim Erreichen schulischer Ziele als auf die kritische Analyse der sozialen Effekte von Schule im Hinblick auf den Bürgerstatus der Schüler und auf die Beförderung eines partizipativen, zivilgesellschaftlichen Klimas in und mit der Schule. Im letzten Schritt soll diese Perspektive anhand von Einzelaspekten näher konkretisiert werden.
Bei der Beschäftigung mit sozialen Aspekten von Bildung lassen sich drei Dimensionen unterscheiden, die in unterschiedlicher Weise zum Gelingen von Bildungsprozessen beitragen und die wiederum in unterschiedlicher Weise von der Gesellschaft anerkannt und bewertet werden:
Die soziokulturelle Dimension umfasst den Grad der Übereinstimmung zwischen der Herkunftskultur und den kulturellen bzw. gesellschaftlichen Anforderungen an Bildungsprozesse.
Die sozialstrukturelle Dimension bezieht sich auf die Abhängigkeit des Bildungsprozesses von sozialen Positionierungen und Anerkennungsstrukturen.
Die interaktive bzw. Geselligkeitsdimension berücksichtigt schließlich die Bildungsrelevanz von informellen Interaktionen und Gruppenzusammenhängen.
Soziokulturelle Dimension:
In soziokultureller Perspektive kultiviert Schule eine spezifische Lebensweise, die überaus voraussetzungsvoll ist und von der die Schüler je nach Herkunftsbedingungen unterschiedlich weit entfernt sind. Frevert hat gezeigt, dass Bildungsanforderungen wie Lernbereitschaft, Leistungs- und Kommunikationsfähigkeit, rationale Selbstkontrolle und kognitive Wissensorientierung sich trotz aller Pluralisierung der Lebensstile am Lebens- und Verhaltensmodell der „Bürgerlichkeit“ orientieren (1999, 157ff.). Für Schroeder bleibt das Bildungswesen in der Normalitätsvorstellung des „Standardschülers“ verfangen, der in einer „normalen Familie“ lebt, sich für sportliche und kulturelle Aktivitäten interessiert, über eine deutsche Muttersprache und christliche Religionszugehörigkeit verfügt und weder behindert noch drogenabhängig oder homosexuell ist (2004, 9f.). Und Schlemmer macht deutlich, dass die in deutschsprachigen Ländern verbreitete Halbtagsschule auf einer Arbeitsteilung zwischen Schule und Familie beruht, nach der die Familie für emotionale Aspekte des Bildungsprozesses zuständig ist und Schüler am Nachmittag immer wieder aufs Neue „schulfähig“ macht (2005, 25). Der Schulerfolg hängt vom gelingenden Zusammenspiel der Instanzen Schule und Familie ab, das im Zuge des gesellschaftlichen Wandels immer prekärer geworden ist.
Bildungsbenachteiligungen lassen sich als soziokulturelle „Verknüpfungsprobleme“ zwischen Herkunftsmilieu und Schule betrachten. Die Sozialpädagogik kann in diesem Zusammenhang kritisch auf die Differenz zwischen schulischen Anforderungen und der individuellen Situation der jeweiligen Schülerinnen und Schüler verweisen. Sie kann Schule zu einem „bildungsförderlichen Milieu“ gestalten, in dem auch die in den Familien oft nicht mehr einlösbaren emotionalen Aspekte Platz finden. Heimgartner hat festgestellt, dass für manche Jugendliche Schule heute „der einzige Platz“ ist, „wo sich wirklich jemand kümmert“ (2004, 584). Das bildungsförderliche Milieu schließt aber auch kognitive Aspekte wie z.B. Medienkompetenz, Alltagswissen oder den Umgang mit Schriftkultur ein, an denen soziale Dienste bei der Ausgestaltung ihrer Handlungsweisen nicht vorbeikommen.
Sozialstrukturelle Dimension:
In sozialstruktureller Perspektive wird erkennbar, dass soziokulturelle Praktiken von der sozialen Position und den daraus resultierenden Chancen zum Erwerb von sozialem Status und sozialer Anerkennung abhängen. In Anlehnung an Böhnisch zeichnet sich für Schüler aus sozial benachteiligten Milieus eine doppelte „Bewältigungsproblematik“ ab (1997, 25ff.): Zum einen müssen sie mit Problemen des häuslichen Milieus, mit sozialen Belastungen, Beschränkungen und Konflikten umgehen. Zum anderen müssen sie negative Schulerfahrungen, Erfahrungen des Scheiterns oder der Abwertung in der Schule bewältigen. Diese Situation macht die Gestaltung und Ermöglichung positiver Bildungserfahrungen schwierig. Soziale Dienste im Kontext von Schule haben es häufig mit einer Klientel zu tun, deren eigene Bildungsbemühungen mit Erfahrungen der Unzulänglichkeit und des Misserfolgs verknüpft sind.
Die Evaluation von „Schulmüden“-Projekten in Nordrhein-Westfalen hat ergeben, dass sich sozialpädagogische Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Eltern, in der individuellen Förderplanung mit Hilfe von Lern- und Zielvereinbarungen, im Fall-Management und in der Kooperation mit externen Diensten wie Sucht- und Schuldnerberatung als erfolgversprechend erwiesen haben. Wichtig war ebenfalls die Verknüpfung der kognitiven Bildung mit handwerklichen Tätigkeiten und Herausforderungen mit Ernstcharakter in Betrieben und sozialen Einrichtungen, die zum Erwerb einer positiven Selbstwertschätzung beitragen (Hofmann-Lun/Michel 2004, 33ff.). Soziale Dienste können frühzeitig und präventiv gegen schulische Abwertungs- und Ausgrenzungsprozesse aktiv werden und ihre fachlichen Kompetenzen in der individuellen Unterstützung und Förderplanung zum Einsatz bringen.
Interaktive Dimension:
Die interaktive Perspektive geht davon aus, dass Bildungsprozesse immer in Interaktionsbeziehungen eingebettet sind. In der Schule zählen hierzu einerseits die Interaktionsbeziehungen zwischen Schülern und Lehrern bzw. Professionellen sozialer Dienste und andererseits die Gesellungsformen unter Gleichaltrigen. In den Interaktionen zwischen Schülern und Professionellen ist ein entscheidendes Kriterium, in welchem Ausmaß die Umgangsformen auf wechselseitigem Vertrauen, Respekt und Anerkennung basieren und in welchem Ausmaß Schüler Mitgestaltungs- und Entscheidungsmöglichkeiten im Hinblick auf ihre eigenen Angelegenheiten erhalten. In den Interaktionen unter Gleichaltrigen besteht die Leitfrage darin, inwiefern die jeweilige Gruppe einen produktiven Bildungsfaktor darstellt und inwiefern Entwicklungen durch Gruppennormen behindert werden.
Die Gruppeninteraktionen können wechselseitige Lernprozesse zulassen bzw. unterstützen oder auch blockierend und ausgrenzend wirken. Peergroup-Effekte sind dabei bisher zu stark unter den negativen Vorzeichen des „Gruppendrucks“ und der Verführung zu „Risikoverhalten“ betrachtet worden und zu wenig als „Bildungsressource“, die durch die Einübung und Gestaltung sozialer Praxisformen einen produktiven Beitrag zu Bildungsprozessen leisten (Sting 2002). Schlemmer schlägt vor, dass sich die Sozialpädagogik in interaktiver Perspektive vor allem auf die Förderung personaler und sozialer Kompetenzen konzentrieren soll (2005, 28). Aus der Sicht einer sozialen Bildung, die auf die Beförderung eines partizipativen, zivilgesellschaftlichen Klimas zielt, stellt der Umgang mit Differenzen ein zentrales Leitkriterium dar: Welche Spielräume eröffnen Peergroups für individuelle Identitätsbildungen und Selbstorientierungen und wie viel Konformismus wird verlangt? Welche Offenheit zeigen sie gegenüber Anderen, Fremden, und wie beziehen sie sich auf die Anforderungen der Gesellschaft?
Die Beförderung eines partizipativen, zivilgesellschaftlichen Klimas kann ebenso als Leitorientierung für den Umgang zwischen Lehrern und Schülern sowie zwischen Professionellen sozialer Dienste und ihren Adressaten dienen. Soziale Dienste können nicht von selbst erwarten, dass ihr Einsatz die Teilhabemöglichkeiten ihrer Adressaten verbessert, da einerseits häufig schon die Inanspruchnahme professioneller Unterstützung stigmatisierend wirkt und da Ausgrenzungs- und Abwertungseffekte auch in der Interaktion zwischen Betroffenen und Professionellen zu erkennen sind.
Eine Aufgabe zukünftiger sozialpädagogischer Forschung im Kontext von Schule ist es deshalb herauszuarbeiten, in welcher Weise soziale Dienste im Hinblick auf ihre institutionelle Struktur und im Hinblick auf ihre professionelle Interaktionspraxis zur Etablierung eines partizipativen, zivilgesellschaftlichen Klimas in der Schule beitragen können. Eine derartige selbstreflexive, entlang der skizzierten Dimensionen sozialer Bildung präzisierte Analyse der eigenen Handlungsmöglichkeiten kann meiner Einschätzung nach zur Profilierung und Professionalisierung sozialer Dienste im Kontext von Schule beitragen. Dabei erscheint es sinnvoll über den Tellerrand der deutschsprachigen Sozialpädagogik hinauszublicken und europäische sowie internationale Erfahrungen in den Horizont mit einzubeziehen, um die traditionellen und verkrusteten Grenzziehungen zwischen Schule und sozialen Diensten aufzubrechen.
[1] Der Begriff des „zivilgesellschaftlichen Klimas“ als Kriterium und Zielbestimmung für „soziale Dienste im Kontext von Schule“ entstand in gemeinsamen Diskussionen mit Wolfgang Schröer, die wir zur Vorbereitung eines Forschungsvorhabens geführt haben.
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Dr. Stephan Sting is Professor für “Sozial- und Integrationspädagogik” (Social Pedagogy and Inclusive Education) at the “Alps-Adriatic-University Klagenfurt” in Klagenfurt, Austria.
Research Topics: Social Pedagogy in Childhood and Youth, Social Work and Health, Social and Informal Education
Recent Publication: Homfeldt, H. G./Sting, S. (2006): Soziale Arbeit und Gesundheit. München.
Relationship with Walter Lorenz: Common Research in European Networks, Cooperation in the Alps-Adriatic-Region, second referee of his PhD dissertation.
Author´s Address:
Prof Dr Stephan Sting
Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung
Abteilung für Sozial- und Integrationspädagogik
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