Luigi Guerra [1] , University of Bologna
Trying to give a definition of Citizenship Education is a challenging operation: it is characterized by a variety of meanings flowing from Civic Education (related to knowledge and practice about the system of laws, rules, conventions referring to a particular civil community) to Socio-political education (related to the awareness of being part of the system of cultural elements, values, traditions historically produced by the community itself).
It would be not be correct identifying Citizenship Education only with elements of Civic Education, as it would restrict its range to formal level of rules and laws, rights and duties. Otherwise, limiting its understanding only on elements of Sociopolitical Education, would offer the risk of investing in cultural similarities, common roots, values homogeneity, that are strong in giving hold on identity, membership, participation, but so exposed to acts of fanaticism, exclusion of diversity, hostility towards minorities.
Therefore, it is necessary to assume that Citizenship Education has to be established on problematic integration of the two presented perspectives, thus founding knowledge and practice about the rules of civil society on the system of values and cultural aspects that every single micro-community (and every single individual) recognizes to be source of the rules: a complex system of various elements made of homogeneity and inhomogeneity, similarities and differences in constant modification an dynamic intercommunication.
Das Konzept der „Bürgerschaftserziehung“ hat in den letzten Jahren zunehmend Verwendung gefunden für die Definition einer Gesamtheit von Bildungsaktivitäten verschiedenster Art, insbesondere interdisziplinären Charakters. Der Begriff erstreckt sich mittlerweile also auf Aktivitäten, die vormals unter der interkulturellen Erziehung geführt wurden, bis hin zu Umwelterziehungsprojekten, von der Verkehrserziehung zur Erziehung zum Frieden ... Es ist offensichtlich, daß man damit die Gefahr läuft (die in den sogenannten „Programmi Moratti“ latent vorhanden ist), die Semantik des Begriffs „Bürgerschaft“ bis ins Unendliche auszudehnen − was konzeptuell ja leicht und möglich ist, letztendlich aber zum Verlust jeglicher spezifischer Bedeutung führen muß. Deshalb sollte man sich vom genannten Konzept eine möglichst klare Vorstellung verschaffen, um jene Elemente des Erziehungsprozesses abzugrenzen, die pädagogisch sinnvoll dazugerechnet werden sollen.
Der Begriff der Bürgerschaft ist intrinsisch problematisch und vielseitig. Um den Begriff der Bürgerschaftserziehung besser zu verstehen und zu erläutern, könnte man zunächst an deren zweifache Interpretationsmöglichkeit im Englischen anknüpfen, wo ihr einerseits civicness („Bürgerkunde“, it. „cultura civica“, „educazione civica“), andererseits citizenship (Staatsbürgerschaft als Identität und als Staatsangehörigkeit) entspricht. Anders ausgedrückt scheinen uns nach dieser ersten Reflexion in der Idee von Bürgerschaft sowohl die Kenntnis als auch die Praxis der gesamten Konventionen, Gesetzen und Regeln, die eine bestimmte Bürgergemeinschaft charakterisieren, als auch ein gewisses „Sich-Wiedererkennen“ des Einzelnen als Teil des Kultur-, Werte- und Traditionssystems, das von eben dieser Gemeinschaft im Laufe der Geschichte hervorgebracht worden ist, vereint. Die erste Interpretationsweise scheint mehr „extern“ zu sein und zumindest teilweise der traditionellen, immer geforderten und fast nie praktizierten schulischen Bürgerkunde anzugehören: „extern“ insofern, als diese aus „kühlem“ Wissen besteht, das sich größtenteils aus rationellen Erkenntnissen speist und nur in geringerem Maß aus emotionaler Teilhabe. Die zweite Deutungsmöglichkeit ist ohne weiteres als „intern“ zu bezeichnen, vor allem weil sie sich auf Bereiche des „warmen“ Wissens bezieht, das von den existentiellen (wertenden, politischen, konfessionellen) Entscheidungen des einzelnen Bürgers ausgeht. Diese Form ist in den schulischen Curricula unseres Landes kaum vorhanden, zumindest nicht in einer kodifizierten Weise. Sie war es hingegen sehr wohl − wir erinnern daran, um auch eine mögliche nationalistische Verwurzelung dieser Interpretation aufzuzeigen − in fast allen schulischen Fächern des „Ventennio“, der faschistischen Ära Italiens, wo die Schule vor allem danach strebte, die „Italianität“ (bzw. die italienische Wesensart) als einen Grundwert der Erziehung zu predigen und diese als gemeinsames Identitätsmerkmal aller Bürger vorzuschlagen.
Diese zwei Interpretationsmöglichkeiten können entweder isoliert oder integrierend betrachtet werden, jedoch beinhaltet jede unilaterale Auffassung des Konzeptes − wie leicht einsehbar − eine direkte Bedeutungsverminderung des ihm korrelierten pädagogischen Auftrages.
Bürgerschaftserziehung allein als civicness zu interpretieren, bedeutet die Gefahr zu laufen, einen pädagogischen Weg einzuschlagen, der vom Bürgerformalismus gekennzeichnet ist, d.h. bestehend ausschließlich aus Gesetzen und Normen, aus Rechten und Pflichten. Es läge also sozusagen ein „objektiver“ Zugang zur Bürgerschaftserziehung vor. Es handelt sich dabei um einen Ansatz, der einerseits, negativ gesehen, kaum motivierend und mitreißend ist, da er vor allem juridisch aufgefaßt wird, andererseits, positiv, vorteilhaft sein kann um einen Bürger auszubilden, der das komplexe Gebilde der existentiellen „Diversitäten“ (Unterschiede) respektiert, die eine Bürgergemeinschaft ausmachen. Das Ergebnis der Interpretation von Bürgerschaft als civicness ist konkret das bekannte „cives romanus sum“ des Heiligen Paulus: die Behauptung einer administrativen Identität (mit ihrem positiven Garantienrahmen), komplett losgelöst von der linguistischen, kulturellen, religiösen Identität des Einzelsubjektes, aber genau deswegen für eine von der Explosion von Verschiedenheiten charakterisierten Stadt völlig funktionell.
Bürgerschaftserziehung ebenso eindeutig im oben genannten Sinne der citizenship-Idee zu interpretieren, beinhaltet das Risiko, daß man auf gemeinsame Wurzeln, kulturelle Gemeinsamkeiten und Wertehomogenität insistiert, die zwar als Garanten der Identität, der Zugehörigkeit und der Gemeinschaft bedeutsam sind, aber gleichzeitig Phänomenen des Fanatismus, der Ausgrenzung des Anderen oder der Bevormundung von Minderheiten ausgesetzt sein können. Das Resultat dieser Auslegung, die wir − in diesen Jahren imposanter Migrationen − seitens des rückständigeren und konservativeren Teiles der Bevölkerung leider mehr oder weniger bewußt favorisiert sehen, kann einerseits sehr wohl der bewußte und sich in der Geschichte seiner Stadt kritisch verwurzelt fühlende Bürger sein, andererseits aber kann es auch − und ist es leider immer häufiger − der Hooligan sein, der „Kelte“, der Bewahrer von der „Reinheit der Traditionen“ (wenn nicht von Rassenreinheit). Es ist kein Zufall, daß diejenigen, die auf der Straße und in den Zeitungen betont eine Bürgerschaft fordern und verteidigen, die Homogenität voraussetzt und geschichtlich determiniert ist, meistens nur ein schwaches Allgemeinwissen über die kulturellen und politischen Gegebenheiten, die unsere Geschichte geprägt haben, aufweisen.
Bürgerschaftserziehung als problematische Integration der Ideen von civicness und citizenship (der einzige Weg, der im Rahmen der Erziehung positive Perspektiven öffnet) bedeutet letztendlich die Begründung des Wissens um und die Ausübung der Regeln einer zivilen Gesellschaft auf ein Werte- und Kultursystem, das jede Mikrogemeinschaft, und letztendlich jedes Einzelsubjekt als Grundlage besagter Regeln einsieht und akzeptiert: ein komplexes System, bestehend aus Homogenität und Inhomogenität, aus Gemeinsamkeiten und Unterschiedlichkeiten in ständiger Veränderung. Dies ist die einzige aussagekräftige und stabile Auffassung von Bürgerschaft, die sie zum Gegenstand eines Bildungsprojektes machen kann, in dem wiederum Bildungs-, Forschungs- und Kreativitätsanteile unterschieden werden können: Bildung, wegen der unzähligen Verweismöglichkeiten auf die einzelnen Fächer des Curriculums jeder Schulordnung; Forschung, weil die Idee einer ständigen Veränderung der Unterschiede, aus denen die Stadt besteht, die direkte Beteiligung des Lernenden an den Bildungslaufbahnen, die nur zum Teil aus konsolidiertem Wissen bestehen, erfordert; Kreativität, weil, im angegebenem Sinn, die Bürgerschaft aus Bürgern besteht, die aufgefordert sind, der Stadt ihren originellen Beitrag bezüglich Wissen, Werten und Utopien zu geben.
Die eben vorgeschlagene reflektierte Integration zwischen der Verhaltenskomponente (die wir in der Perspektive der civicness zusammengefaßt haben) und der politisch-kulturellen Komponente (die hier mit den Bereichen der citizenship übereinstimmt) der Bürgerschaftserziehung erlaubt es, das Problem der objektiven Spannung zwischen den lokalen und globalen Dimensionen der Bürgerschaft selbst anzugehen. Die aktuelle Diskussion über die Realität der Globalisierung und die daraus folgende Bedeutung des Individualverhaltens für die Welt (sowie über die unausweichliche Rückwirkung der internationalen Einzelfakten auf die lokale Ebene) ist, zumindest philosophisch betrachtet, tief in der Vergangenheit verankert und verwurzelt: Der an das Individuum gestellte Bildungs- und Erziehungsantrag, sich selbst als „Kosmopolit“ (Weltbürger) zu erleben, begleitet unsere Kultur seit geraumer Zeit. Manchmal wird er von einer Haltung begleitet − maßgeblich etwa im Fall des katholischen Gedankengutes − welche die geltenden politisch-administrativen Rahmenbedingungen nur toleriert, in Anlehnung an die Formel, wonach sich der Bürger vor dem Kaiser verantwortet, der Mensch aber nur vor Gott. Diesbezüglich kann man etwa auf die Aussagen von Papst Johannes Pauls II. verweisen: “Etimologicamente il termine ‘civiltà’ deriva da ‘civis’, ‘cittadino’, e sottolinea la dimensione politica dell'esistenza di ogni individuo. Il senso più profondo dell'espressione ‘civiltà’ non è però soltanto politico, quanto piuttosto ‘umanistico’”. [2] Etwas umgangssprachlicher wird dieser Gedanke auch von Francis Bacon geäußert: „Wenn ein Mensch gütig und höflich ist, beweist er, daß er ein Weltbürger ist, und sein Herz ist keine Insel, getrennt von den anderen, sondern ein Kontinent, der sie vereint“. Die selbe Ansicht finden wir auch bei einem Zeitgenossen Bacons, John Donne, die von Hemingway an den Anfang seines Romans „ Wem die Stunde schlägt“ gesetzt wurde als Begründung für den kulturellen Einsatz und die internationalistische Militanz.
Die Thematik der Bürgerschaftserziehung mit ihren internen Antinomien zwischen lokal und global, Individuum und Gemeinschaft, Ethik und Politik, war 2005 Gegenstand einer Reihe von Initiativen, die von der Europäischen Union im Projekt „Europäisches Jahr der Politischen Bildung“ zusammengefaßt worden sind. Der politische und pädagogische Ausgangspunkt wird in den Dokumenten der EU formuliert als Überzeugung, daß die Bürgerschaftserziehung eine Investition in die demokratische Zukunft Europas ist. Die Rechtfertigung der verschiedenen Aktionen wird lokal gesehen (als “lokal” wird hier Europa verstanden) und bezieht sich − in einem Zeitalter, in dem die Jugendlichen die Wahllokale und das öffentliche und politische Leben desertieren − auf die Notwendigkeit, sich dringend dem Problemkreis „demokratische Bürgerschaftserziehung mittels langfristiger Investitionen in die Förderung der Menschenrechte, der Toleranz und des kulturellen Pluralismus“ zu stellen. Das Europäische Jahr der Politischen Bildung folgt einer Empfehlung des Ministerrates (2002), welche die Richtlinien, Methoden und Ziele der Reformen und der Politik vorgegeben hat, die die Staaten annehmen sollen, um Bürger zu erziehen, die imstande sind, das Projekt „demokratisches Europa“ zu meistern. Die erzeugten Materialien weisen jedoch eine pädagogische Sensibilität auf, die absolut nicht europazentriert ist. Man vergleiche diesbezüglich zum Beispiel auf der Projekthomepage die Bedeutungen, die den Begriffen „Bürger“ und „Bürgerschaft“ beigemessen werden: “Within the context of EDC the term citizen can be broadly described as ‘a person co-existing in a society’. This is not to say however that the idea of citizen in relation to the Nation State is no longer relevant or applicable, but as the Nation State is no longer the sole focus of authority, there has been a need to develop a more holistic view of the concept. This broader understanding of citizen and citizenship offers a potential new model for exploring how we live together. The challenge therefore is to move beyond the confines of the ‘Nation State’ to the concept of ‘community’ which embraces, the local, the national, regional and the international contexts that individuals live in “ [3] .
Die problematische Verflechtung zwischen den verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten von Bürgerschaft wirkt sich natürlich auch auf die in der Schule und auf dem Territorium durchgeführte pädagogische Reflektion und Bildungserfahrung Italiens aus. Auf der Ebene der theoretischen Pädagogik scheint es uns wichtig, Pierluigi Bertolini zu gedenken, dessen Überlegungen 2004, kurz vor seinem Tod, den von der Encyclopaideia-Stiftung geförderten Kongreß von Zola Predosa eröffnet haben: “L’educazione alla cittadinanza si va sempre più configurando come una delle priorità educative tanto a livello di Unione Europea, quanto a livello nazionale. Nella nozione di cittadinanza, però, convergono esigenze, aspettative, finalità molteplici e differenziate. Si va dallo sviluppo di una cittadinanza attiva, all’apprendimento dei valori democratici, dall’educazione alla legalità, all’educazione ai diritti umani in prospettiva globale, all’aumento, localmente, della partecipazione dei cittadini (con un’attenzione particolare alla pari opportunità per le fasce deboli) alla vita politica, sociale, culturale. A fronte di questa nozione di cittadinanza si pone, a volte in continuità, più spesso in alternativa, la dimensione comunitaria, che richiama non tanto ai diritti soggettivi fondamentali e universali, quanto all’identità collettiva e all’appartenenza ad un gruppo culturalmente connotato” [4] .
Der von der Bürgergesellschaft (d.h. von den verschiedenen Hauptakteure der Vereinstätigkeiten und des Volontariats) geleistete Aufwand wird von den zahlreichen Bildungsinitiativen, für die im Internet geworben wird, bestätigt. Als eines von vielen Beispielen möchten wir den Vorschlag der Vereinigung „Azione per un Mondo Unito-Onlus“ (Juli 2006) zitieren: “La Scuola di Cittadinanza Globale rappresenta un momento di immersione intensiva nelle relazioni che legano il cittadino alle dinamiche globali. Essa si inserisce nel progetto "ABC… l'alfabeto della solidarietà, per educare alla pace e allo sviluppo nella nuova Europa unita", un percorso triennale (2004-2007) finalizzato a rafforzare la capacità di giovani, amministratori locali e associazioni di operare insieme sul fronte della solidarietà internazionale, a livello locale e globale. Scambi interculturali, inquinamento, povertà, malattie, solidarietà internazionale, disuguaglianza... sono tutti fenomeni globali del mondo contemporaneo che hanno radici nei comportamenti locali di ogni singolo cittadino, al nord come al sud del mondo. La Scuola di Cittadinanza Globale vuol essere uno spazio di formazione e soprattutto di sperimentazione attiva di come il nostro agire quotidiano può influenzare, nel male e nel bene, gli equilibri internazionali” [5] .
Eine innerhalb der Schulen, gemäß einer vom Netzwerk Eurydice [6] in über 30 Länder durchgeführten Analyse der Modalitäten, wie die Nationalsysteme dieser Länder die Bürgerschaftserziehung in den Schulen der Primar- und der verschiedenen Sekundarstufen unterrichten, hat ergeben, daß fast überall die Bürgerschaftserziehung in den Curricula eingeführt worden ist, entweder als ein eigenständiges Fach oder eingegliedert als Teil anderer Fächer. In fast der Gesamtheit der untersuchten Gegebenheiten hat die Bürgerschaftserziehung als wichtigste Ziele: den Erwerb einer politischen Kultur, die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls und die aktive Partizipation, mit besonderem Augenmerk auf die europäische und internationale Dimension, von der Möglichkeit ausgehend, sich an den Aktivitäten der Entscheidungsorgane jener Institutionen zu beteiligen, denen man zugehört; aktives Bemühen im Rahmen lokaler Projekte und Initiativen.
Was die italienische Schule betrifft, kann man, auch wenn annehmbare programmatische Weisungen seitens des Ministeriums fehlen (als solche kann man unserer Meinung nach − wie bereits angedeutet − jene, die im Rahmen der sogenannten „Riforma Moratti“ formuliert worden sind, nicht bezeichnen), die Existenz von signifikativen Erfahrungen und pädagogischen Bearbeitungen nicht verleugnen. Unter den verschiedenen Beiträgen scheint uns das von Santerini-Reggio [7] mit der von uns vorgeschlagenen Einstellung zur Problematik signifikant verknüpft zu sein, der folgende für die Bürgerschaftserziehung qualifizierende Elemente identifiziert: “la cittadinanza ha diversi aspetti: giuridico, etico, sociale, politico; l’educazione alla cittadinanza è rivolta alla formazione integrale della persona. Investe diverse dimensioni:cognitiva, affettiva, progettuale/strategica, volitiva, esperienziale; la cittadinanza implica appartenenza a più livelli (stato nazionale, locale, europea, globale); la cittadinanza presuppone diritti e doveri; l’educazione alla cittadinanza è radicata in contesti specifici e concreti; l’educazione alla cittadinanza richiede una traduzione didattica; l’educazione alla cittadinanza comporta l’incontro e il confronto con l’altro” [8] .
Die praktische Deutung der Ansichten, die bis hierher als Grundlage der Bürgerschaftserziehung gestellt worden sind um einen geeigneten pädagogischen Projekt zum Thema zu erstellen, erfordert einige zusätzliche Überlegungen und Anleitungen.
Unter dem Begriff der Bürgerschaft kann man heute in synthetischer Weise das komplexe System von kulturellen und sozialen Kompetenzen verstehen, die als Bildungsbasis für Männer und Frauen gelten, damit sie imstande sind, den eigenen, persönlichen Ideen-, Wissens-, Werte- und Verhaltensmodell zu vertiefen und zu verteidigen und sich gleichzeitig mit den Vorstellungen der anderen auseinanderzusetzen und diese zu respektieren; ja darüber hinaus, damit sie sich selbst als Schützer und Aufwerter der Vielfalt von Kultur-, Werte- und Sozialmodellen verstehen.
Der Bürgerschaftsbegriff scheint das gegliederte und geordnete Kompetenzen- und Wertesystem größtenteils abzudecken, das einst in das Bedeutungsfeld der Sozialisation eingeschlossenen war. Die Einordnung dieses Systems im heutigen Panorama der Bürgerschaftserziehung bedeutet, die Herausforderung anzunehmen, soziale Verhaltensweisen zu erziehen, die − in harmonischer Weise, sowohl in Männern als auch Frauen, die fähig sind, existentielle und politisch kohärente Projekte anzugehen − die ständige Suche und Verteidigung einer eigenen und spezifischen Einzel- und Gruppenidentität, die Fähigkeit und der Wunsch, sich mit den anderen, mit denen man die Regeln festlegen und teilen muß, zu konfrontieren und mit ihnen zusammenzuleben, die positive Spannung das eigene Wissen über die Verschiedenheit, die Motivation zur Solidarität und zur Kooperation auszuweiten, zusammenfassen zu können.
Anders ausgedrückt, bedeutet Bürgerschaftserziehung eine ethnisch-soziale Erziehung zu planen, die imstande ist, die Individuen für das gesamte Spektrum der sozialen Dimensionen auszubilden: Von denen, die eine hohe Autonomiekapazität erfordern (Gruppenresistenz, Behaupten der eigenen Wertevorstellungen und Wissens), bis zu denen, die eine bewußte Partizipation an der sozialen Erfahrung verlangen (sei es durch die Kenntnis und die kritische Durchführung der Regeln für eine friedliche Koexistenz, sei es durch die Annahme von Haltungen und Verhaltensmustern der Neugierde und der Solidarität dem „Anderem“ gegenüber), bis hin zu denen, schließlich, die den Anspruch nach Kondivision (kulturelle und existentielle, von Wissen, von Projekten, von Werten...) mit anderen Einzelsubjekten und Gruppen stellen.
Demzufolge ist Bürgerschaftserziehung eine Erziehung zu Bürgern, die in kritischer Weise autonomie-, partizipations- und kondivisionsfähig sind.
Die Autonomie stellt die unentbehrliche Voraussetzung für die Bürgerschaftserziehung dar, so wie sie es für die Sozialisation ist. Ohne Autonomie kann das Individuum nicht mit den anderen interagieren, sondern untersteht lediglich deren Einfluß, indem er sich akritisch den Meinungen der jeweils dominanten Gruppe fügt.
Der Autonomiebegriff kann von verschiedenen Gesichtspunkten analysiert werden: Im Bereich der Bürgerschaft wird er mit der Fähigkeit, die eigene kulturelle Identität in progressiver Weise zu formen und bewußt zu verteidigen, gleichgestellt. Dies impliziert Kompetenzen verschiedener Natur: informativer (die Kenntnis der eigenen Wurzeln, was Kultur, Anthropologie, Werte, ... angeht), metakognitiver (die Fähigkeit, die eigene Entwicklung zu beobachten, darzustellen und zu dokumentieren) und euristisch-inventiver (die Motivation, den eigenen Existenzprojekt immer wieder utopisch neu zu planen); und darüber hinaus auch die Gewohnheit, die Verantwortung der eigenen Verhaltensweisen zu übernehmen und bewußt deren Folgen zu akzeptieren.
Die Partizipation erfordert insbesondere die kritische Beherrschung der sozialen Verhaltensregeln und die Fähigkeit sie in den verschiedenen Lebenssituationen anzuwenden oder abzulehnen. Sie sieht aber auch die Motivation vor, den Dialog und die Diskussion zwischen den verschiedensten Kulturen anzutreiben, wie auch die Bereitschaft gegenüber der Verschiedenheit (Geschlechts-, Alters-, Glaubens-, Sprachunterschiede, ...) innerhalb eines unverzichtbaren Rahmens kognitiven Erlebens, und die Bereitschaft zur Veränderung und zur Neuformulierung der eigenen Perspektiven in einem viel generelleren Kontext, wobei man sich der Relativität und des ständigen lokalen und globalen Kulturübergangs bewußt ist. Überdies vertieft sie die Achtung vor der Rollenspezifikation und die subjektive Fähigkeit in den mehreren zu schlüpfen, je nach Partizipationssituation, entweder als Entscheidungsträger oder als deren praktischer Durchführer im Alltag.
Die Kondivision ist die Erfahrung, homogene Situationen und Gruppen zu bilden, die gemeinsame Zielsetzungen und Motivationen haben, oder sich zumindest darin zu identifizieren. Sie bietet den Protagonisten, die sich dieselbe „Vision“ zuschreiben und im selben kulturellen und politischen Projekt wirken , Erfahrungen der Solidarität und der Kooperation. Sie setzt es sich zum Ziel, kritisch das Angehörigkeitsgefühl zu einer umfangreicheren Gemeinschaft, die von realen und/oder virtuellen Gemeinsamkeiten charakterisiert ist, anzunehmen.
Am Ende dieser kurzen Überlegungen ist es uns wichtig zu betonen, daß ein Projekt zur Bürgerschaftserziehung, der in den drei oben skizzierten Dimensionen, der Autonomie, der Partizipation und der Kondivision gegliedert ist, nicht nirgendwo anders eingeordnet werden kann als in der politischen und pädagogischen Perspektive des sogenannten „empowerment“; einer Perspektive, in der die Gesprächspartner des Bildungsprojektes so erzogen werden, daß sie diese in ihrer kulturellen, politischen und pädagogischen Beziehung zu den anderen aufnehmen. Der Ausdruck und das Konzept von empowerment haben sich erst seit einigen Jahren im Erziehungsbereich durchgesetzt; nachdem sie vorwiegend innerhalb der sozialpsychologischen Forschung seit Ende der 60er Jahren geprägt und verwendet worden sind. Der Begriff ist schwer übersetzbar, deshalb behalten wir die englische Form bei. In italienischer Sprache könnte man ihn mit Wortumschreibungen wie „trasferimento di potere“ („Machtübersiedlung“), „assunzione di autoconsapevolezza“ („Selbstbewußtseinsannahme“), „aumento della capacità di progettare e realizzare“ („Erhöhung der Planungs- und Realisierungskapazität“), „sviluppo di potenzialità“ („Entwicklung von Potentialitäten“) oder ähnlichen Ausdrücken übersetzen. In den Erziehungswissenschaften weist der empowerment-Begriff auf Projekte erzieherischer Intervention hin, die es sich zum Ziel setzten, ihre Gesprächspartner (die deshalb nicht mehr die „Objekt“-Klienten der Intervention selbst sind) in die Lage zu versetzen, die es ihnen ermöglicht, reell die Hauptakteure und Verantwortlichen ihres eigenen Lebens, ihrer eigenen Entscheidungen, ihrer eigenen Gegenwart und Zukunft zu sein. Das empowerment widersetzt sich deshalb jeder Erziehungsintervention, die Sucht und Sklaverei in den beteiligten Personen oder Gruppen auslösen könnte. Sie widersetzt sich dem Wohlfahrtstaat, ist gegen Gesten und Projekten „der Pflege“, die es sich zum Ziel setzten, strukturell nicht an der Bildung von autonomiefähigen Individuen und selbstständiger Identitäten beizutragen. Heute mehr denn je bedeutet das Arbeiten an einer neuen Form aktiver Bürgerschaft im Sinne des effektiven und kritischen empowerment aller Bürger zu handeln.
[1] Aus dem Italienischen übersetzt von Gerda Videsott.
[2] „Lettera di Giovanni Paolo II alle famiglie“ (“Brief von Papst Johannes Paul II. an die Familien”), Rom, 2. Februar 1994: „Etymologisch leitet sich der Begriff "Zivilisation" von "civis", Staatsbürger, ab und unterstreicht die politische Dimension der Existenz jedes Individuums. Der tiefere Sinn des Ausdrucks "Zivilisation" ist jedoch nicht so sehr politisch als eigentlich mehr "humanistisch".
[3] Karen O’Shea, “A glossary of terms for education for democratic citizenship”, Straßburg, 22. Oktober 2003: Im Kontext des EDC [Akronym von Education for Democrativ Citizenship, des Europäischen Jahr der Politischen Bildung] kann der Ausdruck „Bürger“ ungefähr als „eine Person, die in einer Gesellschaft ko-existiert“ beschrieben werden. Das bedeutet zwar nicht, daß die Bürgeridee im Nationalstaat nicht mehr relevant oder einsetzbar wäre, aber insofern der Nationalstaat nicht mehr der einzige Autoritätszentrum ist, ist es notwendig, daß man eine holistischere Auffassung des Konzeptes entwickelt. Diese weitreichendere Interpretationen von „Bürger“ und „Bürgerschaft“ bietet möglicherweise ein neues Modell an, um unser Gemeinschaftsleben zu erforschen. Deshalb besteht die Herausforderung darin, die Grenzen des Nationalstaates zu überschreiten und einen Konzept von „Gemeinschaft“ zu entwickeln, das sowohl die lokalen als auch die nationalen, die regionalen und die internationalen Rahmenbedingungen der Individuen umfaßt".
[4] Die Bürgerschaftserziehung zeichnet sich in der Erziehung immer mehr als Priorität ab, sei es auf europäischer als auch auf nationaler Ebene. Im Bürgerschaftsbegriff fließen aber vielfältige und unterschiedliche Bedürfnisse, Erwartungen und Finalitäten zusammen, wie die Entwicklung einer aktiven Bürgerschaft, den Erwerb demokratischer Werte, die Rechtserziehung und die Menschenrechtenerziehung in einer Globalperspektive, zu – lokal – der Erhöhung der Bürgerpartizipation (mit besonderer Berücksichtigung der Gleichstellung der Schwächeren) zum politischen, sozialen und kulturellen Leben. Diesem Bürgerschaftsbegriff stellt sich, manchmal als Weiterführung, viel öfters aber als Alternative, die gemeinschaftliche Dimension, die sich nicht so sehr auf ein grundlegendes und universelles subjektives Recht bezieht, vielmehr aber auf die kollektive Identität und auf die Zugehörigkeit zu einer kulturell definierten Gruppe.
[5] Die „Scuola di Cittadinanza Globale“ („Schule der globalen Bürgerschaft“) stellt ein Moment intensiver Immersion in den Beziehungen dar, die den Bürger mit den globalen Dynamiken verbinden. Sie fügt sich im dreijährigem (2004-2007) Projekt „ABC... l'alfabeto della solidarietà, per educare alla pace e allo sviluppo nella nuova Europa unita” (“ABC... das Alphabet der Solidarität, zur Friedens- und Entwicklungserziehung im Neuen vereinten Europa“) ein, mit der Zielsetzung die Fähigkeit der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen, sowohl lokalen als auch globalen Skala, der Jugendlichen, der lokalen Verwalter und der Vereine zu stärken. Interkultureller Austausch, Umweltverschmutzung, Armut, Krankheiten, internationale Solidarität, Ungleichheiten... sind alle globale Phänomene der zeitgenössischen Welt, die in den lokalen Verhaltensweisen jedes einzelnen Bürgers verwurzelt sind, sowohl im Norden als im Süden der Welt. Die „Scuola di Cittadinanza Globale“ will eine Möglichkeit zur Bildung und vor allem zum aktiven Experimentieren, wie unser alltägliches Handeln, im Guten wie im Schlechten, den internationalen Gleichgewicht beeinfließen kann, anbieten.
[6] Siehe: eurydice.italia@indire.it
[7] In: www.europoliteia.org/formazione/download/strumenti /CittadinanzaControllodelProgetto.doc
[8] Die Bürgerschaft hat verschiedene Aspekte: rechtlicher, ethischer, sozialer, politischer; die Bürgerschaftserziehung richtet sich an die Gesamtbildung der Person. Sie umfaßt verschiedene Dimensionen: kognitive, affektive, planende/strategische, willensstarke, experimentelle; die Bürgerschaft bedeutet Angehörigkeit, auf mehreren Ebenen (nationalstaatlicher, lokaler, europäischer, globaler); die Bürgerschaft setzt Rechte und Pflichten voraus; die Bürgerschaftserziehung ist in spezifischen und konkreten Kontexten verankert; die Bürgerschaftserziehung erfordert eine didaktische Umsetzung; die Bürgerschaftserziehung impliziert das Zusammentreffen und die Auseinandersetzung mit dem Anderen.
Luigi Guerra is Professor in “Technology of Education” in the Faculty of Science of Education at the University of Bologna, Italy.
He is Director of the Study Programme “Educatore Sociale” and currently the Dean of the Faculty. His fields of research are education and technology, early childhood and leisure time activities and learning processes
Recent publications: Antropologia, psicologia generale e pedagogia. Milano, Masson, 1999 (con R.Canestrari); Manuale di didattica per l'Asilo Nido. Bari, Laterza, 2002, (con Q.Borghi) Seconda edizione; Educazione e tecnologie. I nuovi strumenti della mediazione didattica. Bergamo, Junior, 2002 (a cura di); Il giornale virtuale. Esperimenti in rete per la comunicazione interscolastica. Bergamo, Junior, 2004 (a cura di, in coll. con B. Caparra).
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