Linguistic-Political Subsidiarity: a Look at South-Tyrol

Hans Drumbl, Freie Universität Bozen

Abstract

With its economically and politically advantageous autonomy, the province of South-Tyrol (northern Italy) has developed a society in which multilingualism plays an ever more important role. As suggested in the present contribution, a solution to some still current problems and barriers that exist between the different linguistic groups can, and indeed should, be found in the principle of subsidiarity, applied consciously, and not only encouraging and accomplishing a simple improvement of the situation. Thanks to subsidiarity, we could think about eliminating existing deficits and inequality.

It is precisely with this concept in mind that, half a century ago, in an evening school for young workers and later in his parish school in Barbiana, the Italian priest Don Milani established his school for “children without a school”, an experiment which gained a wide reputation in the whole of Italy and which inspired the reform of scuola media emphasising the concept of language education.

 

Wenn ich meine Eindrücke und meine Erfahrungen in Südtirol zusammenfasse, so bin ich versucht zu sagen, dass das Bedürfnis nach Mehrsprachigkeit von jeder Generation, von jedem Einzelnen, von jeder Familie neu begründet werden muss. Die Akteure der Gegenwart selbst sind aufgerufen, von der ihnen zustehenden autonomen Entscheidungsgewalt Gebrauch zu machen und selbstständig zu entscheiden, welche Form des Zusammenlebens sie für sich und ihre Kinder wünschen und verlangen.

Die Neufassung des Artikels 118 (comma 4) der italienischen Verfassung aus dem Jahr 2001 bietet ihnen – und uns – die Grundlage dazu:

“Stato, Regioni, Città metropolitane, Province e Comuni favoriscono l'autonoma iniziativa dei cittadini, singoli e associati, per lo svolgimento di attività di interesse generale, sulla base del principio di sussidiarietà.” ( http://www.senato.it/parlam/leggi/01003lc.htm )

“Staat, Regionen, Großstädte mit besonderem Status, Provinzen und Gemeinden fördern aufgrund des Subsidiaritätsprinzips die autonome Initiative sowohl einzelner Bürger als auch von Vereinigungen bei der Wahrnehmung von Tätigkeiten im allgemeinen Interesse.“ ( http://www.regione.taa.it/giunta/normativa_it/statuto/lc_3_2001.pdf )

Das Prinzip der Subsidiarität trägt der Tatsache Rechnung, dass das Zusammenleben der Menschen das Ergebnis des Lebens der Einzelnen in den ursprünglichen Aggregaten von Familie, Freundeskreis und lokaler Sozialisierung ist. Von dieser Basis aus soll und kann auch entschieden werden, ob die Südtiroler für ihre Zukunft eine mehrsprachige Gesellschaft anstreben.

In dieser abstrakten Form ist Subsidiarität nicht gut zu vermitteln. Die Verantwortung „von unten“ braucht immer auch Menschen, die die Initiative ergreifen, die tätig werden, die alte und neue Probleme analysieren und Lösungen suchen. Ich wähle daher ein Bild, und zwar ein historisches Bild, das in Analogie zu unserer sprachlichen Situation von heute den Ort und den Spielraum für Subsidiarität aufzeigen kann.

Ich zitiere:

“Abbiamo visto che la rovina dei nostri ragazzi non è nei difetti della scuola, ma a casa. Inutile dunque cercare soluzioni legislative. Ogni miglioramento della scuola non farebbe che favorire chi anche attualmente riesce a seguire la scuola. Accentuerebbe dunque ancora di più il dislivello. […]

A noi non interessa tanto di colmare l´abisso di ignoranza, quanto l´abisso di differenza.” (Don Lorenzo Milani 1954, S. 220)

“Wie wir gesehen haben, liegt der Grund für die katastrophale Situation unserer Jugendlichen nicht in den Defiziten der Schule, sondern zu Hause bei den Familien. Es wäre also sinnlos, Eingriffe des Staates zu fordern. [Der Satz bezieht sich auf die staatliche italienische Schule in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts HD]. Jede Verbesserung der Schule würde nur dazu führen, diejenigen noch stärker zu fördern, die schon heute die Schule mit Profit besuchen und würde somit den Unterschied noch weiter verschärfen. […]

Was uns im Grunde interessiert, ist nicht so sehr, die abgrundtiefe Ignoranz zu bekämpfen, als vielmehr den Abgrund an Differenz aufzuheben.” (Übersetzung HD)

Hier sind entscheidende Punkte angesprochen, die unter den Begriff der Subsidiarität fallen. Das Versagen des Elternhauses rückt den ersten Ort des Handelns ins Blickfeld. Der Schule nicht mehr sondern weniger Verantwortung aufzulasten, um Defizite zu bereinigen, gehört ebenso zu diesem Gedankengang. Und den Begriff der „Differenz“ kennen wir sehr gut aus unserer Gegenwart, wo wir den „Digital Divide“ konstatieren und beklagen. Ebenso wie in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts die offizielle „Kultur“ sich nicht der Herausforderung der Differenz gestellt hatte, versagen wir heute vor der des „Digital Divide“ – und vor anderen auch.

Wie könnte ich den Ansatz der Subsidiarität besser veranschaulichen, als in der Erinnerung an den jungen Priester, der vor einem halben Jahrhundert in einer kleinen Stadt in der Nähe von Florenz die Herausforderung der Differenz angenommen und exemplarisch einen möglichen Ausweg gezeigt hat? Don Milani hat mit seiner Abendschule in Calenzano Subsidiarität in die Praxis umgesetzt, und seine Schüler haben es ihm mit jahrelanger Verbundenheit gedankt, die Ausdruck einer Art archaischer Solidarität darstellt. Solidarität und Subsidiarität sind auch in der Enzyklika „Quadragesimo Anno“ von Pius XI aus dem Jahr 1931 gemeinsam aufgetreten. Als Don Milani in das Exil einer Bergpfarre ohne Gemeinde strafversetzt worden war und dort mit den von allen Schulen vergessenen Kindern seine Schule, die „Schule von Barbiana“, begann, war er auf sich gestellt und ohne jede Unterstützung. Jeden Sonntag kam eine Abordnung seiner Schüler und Freunde aus Calenzano mit vollem Auto und brachte Lebensmittel und anderes Notwendige in das entlegene Pfarrhaus, das letzte Stück zu Fuß gehend, denn es gab keine Straße hinauf, so wie es in der Pfarre auch kein elektrisches Licht gegeben hat.

„Hanno campato il loro prete“ berichtet Agostino Barberi, der damals zur ersten Gruppe von Schülern gehört hatte. Er verwendet das Verbum transitiv auf ungewohnte Weise, eine Gebrauchsform, die De Mauro als „popolare und meridionale“ charakterisiert. Das Italienische in der Toskana. So verschieben sich Grenzen im Bewusstsein des Sprechenden.

Gelebte Subsidiarität setzt Zeichen. Und dieser Aspekt ist vielleicht wichtiger als die Aktion selbst. Indem sie in einem ganz bestimmten Fall ein Ziel erreicht oder auch nur anstrebt, zeigt sie anderen den Weg.

Ich bin nicht berufen, über die Anwendbarkeit und die Anwendung des Subsidiariätsprinzips für die Südtiroler Sprachpolitik zu bestimmen. Ich kann nur von den Zeichen sprechen, die zu mir sprechen und versuchen, das, was ich wahrgenommen habe, weiterzugeben.

Das Bild, das die Arbeit von Don Milani in der Bergbauernschule von Barbiana als Erbe hinterlassen hat, ist noch heute gültig. Die Kraft, die von diesem Bild ausstrahlt, kann auch heute noch wirken und den Weg aufzeigen.

Das Bild wirkt als Metapher und erhält neue Kraft, wenn wir die Parameter verändern. Die Gruppe von Schülern, die heute als „ausgeschiedene“ ins Blickfeld treten, sind nicht die Bergbauernkinder von damals und wohl auch nicht die aus den Südtiroler Tälern von heute, die noch vor einer Generation als „Menschen ohne Sprache“ gekennzeichnet worden waren (ein Topos der Südtiroler Schriftsteller, Zoderer, Kaser, und andere. Sabine Gruber spricht von der „Stottersprache“ ihrer Jugend). Die Sprachlosigkeit ist unter uns, aber in ganz anderen sozialen Schichten, gerade in den „privilegierten“, ist man versucht zu sagen. Heute sind es auch die Kinder aus Familien mit bürgerlichem Hintergrund, die Gefahr laufen, zu neuen „Sprachlosen“ in unserer Gesellschaft zu werden. Ihrer Art zu sprechen, in grunts, grugniti, hat Alessandro Banda (2005) in seiner herrlichen Satire über Südtirol, „La città, dove le donnne dicono no“, ein eigenes Kapitel gewidmet. Zum Totlachen die Satire, tragisch die Realität.

Dieses Sprechen verweist uns auf die Familie. Die Erkenntnis, die Don Milani ausgesprochen hat, dass die wahren Probleme in den Familien entstehen, ist auch heute noch gültig. Dass damals in den Familien die Probleme nicht gelöst werden konnten, war für Don Milani Ausgangspunkt seines Handelns.

Kann auch heute in den Familien kein Ausweg gefunden werden aus der angehenden Sprachlosigkeit, die wie ein Damoklesschwert über der Zukunft der jungen Menschen in unserem Land schwebt?

Der Gedanke, dass wir nicht umhin können, den Familien mehr zuzutrauen und mehr Verantwortung aufzubürden, lässt mich noch einen Blick zurück werfen auf den ursprünglichen Wortlaut, mit dem in der Enzyklika der Begriff der Subsidiarität Einzug in die Soziallehre der Kirche genommen hat:

„79. Wenn es nämlich auch zutrifft, was ja die Geschichte deutlich bestätigt, dass unter den veränderten Verhältnissen manche Aufgaben, die früher leicht von kleineren Gemeinwesen geleistet wurden, nur mehr von großen bewältigt werden können, so muss doch allzeit unverrückbar jener höchst gewichtige sozialphilosophische Grundsatz fest gehalten werden, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“ ( http://www.christusrex.org/www1/overkott/quadra.htm )

Mangel an Subsidiarität führt zur Zerstörung elementarer Kräfte in der Gesellschaft, ist hier das Stichwort. Zerstören oder Verhindern, dass positive Kräfte zum Tragen kommen.

Dazu eine Anmerkung – inquirendi magis quam affermandi – zum Problem der mehrsprachigen Identität. Die Identität des jungen Menschen entsteht in der Familie. Die Wurzeln für die Identität als mehrsprachiger Mensch müssen daher im Umkreis der Familie gründen. Menschen, die nicht spontan mehrsprachig aufwachsen, müssten sich ihrer mehrsprachigen Identität bereits bewusst sein, bevor sie sich aufmachen, die zweite, die dritte Sprache in der Schule zu lernen. Sie müss(t)en den Erwerb dieser Sprachen ganz einfach als eine natürliche Erweiterung ihrer persönlichen „skills“ ansehen. Vielleicht fällt dem einen oder dem anderen dazu auch das altmodische Wort „Bildung“ ein. Ist es möglich, dass es dieser Prämisse bedarf, um sich der zweiten, der dritten Sprache zwanglos zu nähern und die Schritte auf dem Weg zur Kompetenz mit Freude an der Sache und am Lernfortschritt, das heißt am Fortschreiten, zu erleben?

Um mit einem konkreten Ausblick zu schließen, möchte ich noch einen Aspekt betonen, den uns das (Vor-)bild der Don Milanischen Subsidiarität vermittelt. Don Milani zeigt uns nämlich, wie rasch eine solche Aktion vom Gedanken, vom Ausgangspunkt der Erkenntnis des Problems in die Realität umgesetzt werden kann. Das ist der eigentliche Trumpf des Subsidiaritätsgedankens, und das ist auch die Herausforderung an uns. Rasch zu antworten. Die gerade notwendig gewordenen, gerade erst sichtbar gewordenen Probleme rasch zu analysieren und damit zu beginnen, Lösungen zu suchen. Flexibilität in den Gremien und in der Verwaltung und das Bewusstsein der Aufgabe, die uns aufgegeben ist, können zusammenwirken und dieses Handeln „von unten“ erfolgreich machen. Erfolge, die nicht nur punktuell wirken, sondern die auch für andere zum Vorbild werden und Südtirol eine Rolle geben, die in Europa wahrgenommen wird.

Literatur

Banda, A. 2005: La città dove le donne dicono di no. Milano: Guanda ,Collana: Narratori della Fenice.

Legge costituzionale 18 ottobre 2001, n. 3: "Modifiche al titolo V della parte seconda della Costituzione", pubblicata nella Gazzetta Ufficiale n. 248 del 24 ottobre 2001. Accessed 02/2007 < http://www.senato.it/parlam/leggi/01003lc.htm >
Deutsche Fassung: Verfassungsgesetz vom 18. Oktober 2001, Nr. 3: Änderungen zum V. Titel des Zweiten Teils der Verfassung (Im GBI. vom 24. Oktober 2001, Nr. 248). Accessed 02/2007 < http://www.regione.taa.it/giunta/normativa_it/statuto/lc_3_2001.pdf >

Milani, Don L. 1958: Esperienze pastorali. Firenze: Libreria Editrice Fiorentina.

Papst Pius XI. 1931: Enzyklika: Quadragesimo Anno. Accessed 02/2007 < http://www.christusrex.org/www1/overkott/quadra.htm >

Notes on Author

Dr. Hans Drumbl is currently Professor for the „German Language” at the Free University of Bolzano, Campus Brixen. Since 1969 he has been teaching at various universities in Italy.

His areas of research: Literary Hermeneutics, Multilingualism and Translations in the Middle Ages and in Present Times. Language Acquisition and Didactics of language Teaching in the area of “German as a foreign or second language”.

Author´s Address:
Prof Dr Hans Drumbl
Free University of Bozen - Bolzano
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